Über das Bedürfnis nach einem Gespräch in Zeiten von Social Media und über die Kunst der Reportage in Polen
Interview mit Włodzimierz Nowak
Włodzimierz Nowak, 1958 in Poznań geboren, ist ein polnischer Autor und Journalist. Er arbeitet seit 1993 als Reporter für die wichtigste polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza und ist dort Chefredakteur des Reportagemagazins Duży Format („Großes Format“). Bekannt wurde er in Polen und in Deutschland mit seinen literarischen Reportagen Obwód głowy (2007, dt. Die Nacht von Wildenhagen: zwölf deutsch-polnische Schicksale, 2009). 2016 erschien sein zweites Buch Serce narodu koło przystanku (2009) auf Deutsch unter dem Titel Das Herz der Nation an der Bushaltestelle, in dem er das Alltagsleben in der polnischen Provinz porträtiert. Für seine Reportagen wurde Nowak mit dem Preis des Polnischen Journalistenverbands, dem Deutsch-Polnischen Journalistenpreis und 2010 gemeinsam mit seiner Übersetzerin Joanna Manc mit dem Georg-Dehio-Ehrenpreis ausgezeichnet.
Wir sprachen mit Włodzimierz Nowak im Rahmen des „Polnischen Jahres“ an der Universität Potsdam über das Genre der literarischen Reportage und seine besondere Popularität in Polen sowie über die Rolle des Reporters und die Kunst des Zuhörens.
Die literarische Reportage
novinki: Herr Nowak, Sie leiten die Redaktion des Reportagemagazins “Duży Format” der “Gazeta Wyborcza”, das jeden Donnerstag beinahe in einem Buchumfang erscheint. Auf der Liste der diesjährigen Nominierungen für den “NIKE-Preis”, dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, sind gleich sieben Reportage-Bände zu finden. Wie erklären Sie sich den Erfolg der literarischen Reportage in Polen?
Włodzimierz Nowak: Die Schriftsteller protestieren schon, denn der NIKE-Preis ist die höchste Auszeichnung im Bereich der Literatur in Polen. Jedes Jahr schaffen es ein paar Reportage-Bücher auf die Liste der Nominierten, aber in diesem Jahr ist die Gattung überrepräsentiert, so dass es wirklich einen Wettstreit zwischen Autoren und Reportern geben wird.
n.: Was macht diese steigende oder besser gesagt anhaltende enorme Wertschätzung der Reportage aus Ihrer Sicht aus?
W.N.: In Polen kann man wirklich von einem anhaltenden Boom der Reportage sprechen. Es gibt neben dem NIKE-Preis auch noch den Ryszard-Kapuściński-Preis, der für das beste Reportage-Buch des Jahres verliehen wird. Dass Reportage-Bücher ihre Leser finden, ist aus meiner Sicht noch durchaus verständlich, aber dass die Zeitungsreportage weiter Bestand und einen festen Platz in der Tageszeitung hat, ist wirklich erstaunlich. Das Magazin Duży Format war zunächst als reines Reporter-Magazin gedacht. Außer Reportagen gibt es hier aber auch Interviews, darunter eine spezielle Form des Interviews, die eher eine Art Porträt ist. Auch Feuilletons, kürzere reportagenhafte Betrachtungen eines Wojciech Tochman oder Mariusz Szczygieł, werden hier veröffentlicht. Wir stehen allerdings in einem ständigen Wettbewerb mit den sozialen Medien, mit Facebook, Twitter und anderen Formen der schnellen Nachrichtenkommunikation.
n.: Wie entsteht eine Zeitungsreportage?
W.N.: Zunächst muss der Reporter für ein paar Tage (manchmal auch Wochen) die Redaktion verlassen und sich auf die Reise begeben, er muss seine Helden treffen, sich für sie Zeit nehmen, sich mit den Orten und Menschen vertraut machen. Dann ordnet er das Material, macht sich Gedanken über die entsprechende Form, was weitere zwei-drei Tage dauert. Das heißt, man braucht mindestens eine Woche, bis eine Reportage fertig ist. Hinzu kommt, dass, wenn der Reporter von seiner Reise zurückkehrt, das Ereignis, was Anlass seiner Reise war, schon längst vergessen ist, und er den Leser erst wieder daran erinnern muss, was vor einer Woche, also gefühlt vor hundert Jahren passiert ist. Diese Art der Reportage ist auch sehr teuer, da es nicht bei einem Anruf oder ein paar Recherchen im Internet bleibt, sondern meistens eine mehrtägige Reise erforderlich ist.
n.: Bei der literarischen Reportage handelt es sich um ein besonderes Genre zwischen Literatur und Journalistik. Bereits vor dem Krieg, in den 1920er und 1930er Jahren, hatten die Reportagen als Literaturgattung in Polen eine hohe Konjunktur. Zu Zeiten der Volksrepublik Polen sprach man bereits von einer „polnischen Schule der Reportage“. Welche „Reportage-Schule“ ist Ihnen wichtig? In welcher Tradition sehen Sie ihr eigenes Schreiben?
W.N.: Es ist schwer, die Masse an Reportagen, die in den letzten Jahrzehnten erschienen ist, eindeutig bestimmten „Schulen“ zuzuordnen. Das mischt sich alles, inspiriert und beeinflusst sich gegenseitig. Ganz deutlich kann man nur den Stamm unterscheiden: die drei großen K: Krall, Kapuściński, Kąkolewski. Ich würde dann noch ein Sz wie [Małgorzata] Szejnert hinzufügen, die eine Art Reportagen-Fresko praktiziert, oder mit ihren Worten ausgedrückt: eine sich aus mehreren Handlungssträngen, reich an Verzierungen, zusammensetzende Stickerei schafft. Das ist meine Meisterin, von ihr habe ich das Handwerk des Reportageschreibens gelernt. Einen ganz eigenen Stil, bei dem der Autor-Reporter im Vordergrund steht, prägte Jacek Hugo-Bader. Er ist selbst Teil der Ereignisse und kommentiert sie zugleich. Er erinnert dabei ein wenig an [Günter] Wallraff.
Vor kurzem war ich auf einem Reportertreffen in der Nähe von Kazimierz, einer privaten Veranstaltung, organisiert von Małgorzata Szejnert, in ihrem Landhaus am Ufer der Weichsel. Einer der Reporter erinnerte sich, wie Szejnert als Redaktionsleiterin bei der Gazeta Wyborcza den jungen Mariusz Szczygieł und Wojciech Tochman „ent-krallen“ musste. Wir alle waren sehr stark beeinflusst von Hanna Krall und ihrer Art des Erzählens. Was wiederum die jungen Reporter betrifft, orientieren sie sich stark an Mariusz Szczygieł. Er hat viele Jahre das Magazin Duży Format geleitet und als Redakteur die nächste Generation geprägt. Szczygieł ist sicherlich einer der bekanntesten und populärsten Reporter-Autoren in Polen, zu dem die jungen Leute hochschauen. Ich persönlich schätze die Reportagen von Lidia Ostałowska, ihr feines Gespür für die Gesellschaft und ihr Gehör für die kleinen und wichtigen Themen und Geschichten des Landes. Sie hat ihre ganz eigene Nische innerhalb der polnischen Reportage gefunden, die ich wichtig finde und die mir zugleich sehr nah ist.
n.: Worin besteht das Erfolgsrezept der literarischen Reportage in Polen? Weder die Zensur in den Zeiten der Volksrepublik noch die Konkurrenz mit den neuen Medien haben das Genre untergehen lassen. Wie erklären Sie sich die Unverwüstlichkeit der Reportage?
W.N.: Dazu könnte ich viel sagen. Paradoxerweise ist es tatsächlich so, dass die Zensur in der Volksrepublik die Reportage eher beflügelt hat: das Sprechen zwischen den Zeilen, die metaphorische Sprache und die Aufmerksamkeit für die Details, die auf ein größeres Bild oder einen Universalismus verweisen. Ein Beispiel hierfür wäre Ryszard Kapuścińskis Reportage Heban (dt. Afrikanisches Fieber) über einen äthiopischen Kaiser, die alle als Kritik am sozialistischen Staat lasen. Es war natürlich nicht möglich, über das Regime, die Unterdrückung und die Mangelwirtschaft dieses fatalen Systems zu schreiben. Aber man konnte – pars pro toto – am konkreten Beispiel eines Fabrikdirektors und der unter ihm leidenden Arbeiterin eine Geschichte erzählen, die gleichzeitig nicht nur ein persönliches Schicksal abbildete, sondern auch das ganze System indirekt in Frage stellte. Problematisch wurde es erst, als die Zensur wegfiel. Die Reportage hätte eigentlich gemeinsam mit dem sozialistischen System untergehen müssen.
n.: Ja, genau. Das tat sie aber nicht…
W.N.: Nein, denn die Menschen haben immer noch das starke Bedürfnis nach einem authentischen Gespräch und der Geschichte eines Gegenübers, der man mit Spannung lauschen kann. Durch die Geschichte des Helden kann man Welten Anderer betreten und sich wichtigen oder interessanten Geschichten nähern, die für einen selbst, für die eigene Gegenwart relevant sind. Deshalb überlebte die Reportage bis heute trotz Twitter und anderer sozialer Medien.
Der Reporter als Zuhörer und Zeuge
n.: Was passiert eigentlich in diesem „authentischen“ Gespräch zwischen dem Interviewer und der interviewten Person?
W.N.: In den langen Gesprächen zwischen Reporter und Helden entsteht eine besondere Situation, die einer Beichte gleicht, und die den Leser zu einem Zeugen dieses Bekenntnisses werden lässt. Er nimmt Anteil an den Emotionen und Stimmungen des Gesprächs und der oft fast hypnotischen Spannung zwischen Reporter und seinem Gesprächspartner. So zum Beispiel in der Reportage Die Nacht von Wildenhagen, wo wir Zeugen des persönlichen Traumas der Protagonistin Adelheid Nagel werden. Eine polnische Leserin oder ein polnischer Leser haben die Möglichkeit, vom Schicksal einer Deutschen zu hören und daran Anteil zu nehmen. Das erscheint mir von großem Wert.
n.: Herr Nowak, neben der Geschichte von Adelheid Nagel, beschreibt Ihr erstes Buch “Die Nacht von Wildenhagen” auch noch andere polnisch-deutsche Schicksale, die die komplexe, oftmals schwierige, gemeinsame Geschichte Deutschlands und Polens widerspiegeln. Was hat Sie dazu bewogen, sich gerade der Themen Krieg, Flucht und Vertreibung sowie der Gegenwart der Grenzregion anzunehmen?
W.N.: Diese Frage muss differenziert beantwortet werden. Ein Beweggrund war sicherlich meine eigene Biographie. Ich wurde 13 Jahre nach Kriegsende geboren und bin in Großpolen aufgewachsen. Ich hatte somit von Anfang an meine Probleme mit „dem Deutschen“. Er war für mich die Personifikation des Bösen, ein 1,90 m großer Mann, der schrie und anderen Befehle gab, der noch vor kurzem auf meine Eltern und Großeltern geschossen hatte und mir ansonsten völlig unbekannt war. Ich spreche von der Situation in den 1960er und 1970er Jahren in Polen. Die Reportagen entwickelten sich dann aus der Perspektive eines Jungen, der auf der einen Seite der Oder-Neiße-Grenze steht und auf das andere Ufer hinüber späht, der wissen möchte, wer diese Deutschen wirklich sind.
n.: Wie hat sich ihr Bild der Deutschen dann verändert? Und wie sind Sie auf die Geschichten gestoßen?
W.N.: Nach dem Studium in Poznań bin ich in die polnische Provinz nach Pszczew umgezogen, es war die Zeit des Kriegsrechts [Anfang der 1980er Jahre], ich flüchtete damals vor dem Regime und begab mich in eine Art innere Emigration. Pszczew ist eine kleine Ortschaft im Westen Polens und dort machte ich als Leiter des Regionalmuseums besondere Erfahrungen. Ab und zu kamen Deutsche, um ihre alte Heimat zu besuchen, und ich saugte diese Leute förmlich aus, wollte all ihre Geschichten und Erinnerungen hören und aufschreiben, um das Gedächtnis dieses Ortes aufrechtzuerhalten. Viele konnten mir die Geschichten der einzelnen Häuser in ihrer Straße erzählen und ich erfuhr einiges über den Handel der Vorkriegszeit sowie die Morde und Selbstmorde von 1945. Ich sammelte diese Geschichten, um sie an die polnischen Vertriebenen und Umgesiedelten aus dem Osten weiterzugeben, die ab den 1970er Jahren schon nicht mehr davon sprachen, in ihre alte Heimat zurückzukehren, sondern sich vielmehr in den neuen Gebieten eingelebt hatten und nun neugierig waren. Sie wollten mehr über die Vergangenheit dieser Orte erfahren, um dort endgültig Wurzeln schlagen zu können.
Auf jeden Fall lernte ich, den Deutschen zuzuhören, und das half mir später als Reporter dabei, den Heldinnen und Helden meiner deutsch-polnischen Reportagen die richtigen Fragen zu stellen. Ich befand mich im Grunde genommen schon damals in der Rolle eines Reporters. Auf der einen Seite waren die ehemaligen Bewohner dieser Orte, die zu Protagonisten der Geschichten wurden, und auf der anderen Seite hatte ich eine Leserschaft von Ankömmlingen aus dem ehemaligen polnischen Osten, die nichts über ihre neue Heimat wussten und neugierig waren auf die Geschichten dieser Orte und Landstriche. Meine Aufgabe war es, diese Geschichten in eine völlig andere Realität, in eine polnische Wirklichkeit zu übersetzen. Das war meine erste bewusste Erfahrung als Reporter.
Von der Notwendigkeit des Erzählens
n.: Das Buch wurde von Joanna Manc ins Deutsche übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Wie waren die deutschen Reaktionen auf dieses Buch? Wie haben Sie die Lesungen in Deutschland erlebt?
W.N.: Als meine Übersetzerin, Joanna Manc, und ich die Reportage über Wildenhagen an verschiedenen Orten lasen, gab es unterschiedliche Reaktionen. Ich kann mich noch gut an eine Lesung in einem Gemeindehaus in der Nähe von Kiel erinnern. Die Leute brachten ihre eigenen Stühle mit und der Saal füllte sich, es wurde voller und voller, so dass wir uns schließlich ganz dicht gegenüber saßen. Alle kamen, um den über die Deutschen schreibenden Polen lesen zu hören. Ich spürte eine gewisse Skepsis im Raum. Als wir dann zu lesen begannen, war die Spannung kaum zu ertragen. Die Menschen schauten nicht mehr mich an, sondern schauten nach unten auf den Boden oder zum Fenster hinaus und man spürte die aufgeladene Atmosphäre. Sie haben uns nach der Lesung auf ein Bier eingeladen und es wurde ein langer Abend, bei dem uns viele Geschichten über das Schweigen in den deutschen Familien erzählt wurden. Das waren oft sehr persönliche und intime Geschichten. Sie erzählten von der Unerträglichkeit des Schweigens und den Konsequenzen, die es für die Familie und die nächsten Generationen mit sich brachte.
Auch in Frankfurt gab es eine Situation, die sich mir eingeprägt hat. Einer der Verlagsredakteure war sehr berührt von meinem Text und erzählte mir von seinem Vater, der sein Leben lang geschwiegen und die Fragen des Sohnes nicht beantwortet hatte. Vater und Sohn redeten nur über Belangloses und alle wirklich wichtigen und ernsten Gespräche fanden nicht statt. Als wir uns begegneten, lag sein Vater im Sterben und begann in diesem halbkomatösen Zustand seine Kriegserlebnisse der Krankenschwester, die ihn täglich pflegte, zu erzählen. Erst durch diese Krankenschwester erfuhr der Sohn die Geschichte seines Vaters, die eine Art Beichte war.
n.: Das Interview, das ein Reporter führt, gleicht dieser eben beschriebenen Gesprächssituation, in der die Krankenschwester am Bett des Sterbenden Zeugin und Zuhörerin einer Lebensbeichte wird. Eine neutrale Person, der man Dinge anvertraut und erzählt, die man mit anderen eher nicht teilen würde, verdrängte und verschwiegene Geschichten. Wie kommt es dazu, dass die Menschen Ihnen diese Geschichten anvertrauen?
W.N.: Damit die Menschen ihre Geschichten erzählen, muss man einen guten Grund haben, mit einem wirklich wichtigen Anliegen zu ihnen kommen. Es geht nicht darum, jemanden zum Gespräch zu zwingen. Das ist eine intime Situation und wenn sich beide Seiten dessen bewusst sind, dann wird das Gespräch tiefgründig. Oft stellt sich dann heraus, dass die Leute auf ein solches Gespräch gewartet haben und deshalb gerne erzählen.
n.: In Ihrem zweiten Buch Das Herz der Nation an der Bushaltestelle, das dieses Jahr in Deutschland erschienen ist, sind es die polnischen Provinzen und ihre Bewohner, die im Mittelpunkt der Reportagen stehen. Mich haben diese Erzählungen bewegt und zum Teil auch schockiert. Es sind Geschichten über das Scheitern, zerstörte Träume und Überlebensstrategien in der Nachwendezeit in Polen. In der Reportage “Finansówki” (dt. “Schlimmer als Mörderinnen”) stehen die Schicksale der sogenannten Finanzbetrügerinnen oder – in der Übersetzung von Joanna Manc – „Profiteusen“ im Mittelpunkt. Wie kam es zu den Interviews mit den inhaftierten Frauen?
W.N.: Diese Frauen waren im Gefängnis. Und jemand hatte die Idee, dass wir eine Art Workshop mit den Frauen veranstalten sollten, damit sie ihre Geschichten loswerden und verarbeiten könnten. Dieser Vorschlag wurde mir unterbreitet und ich nahm die Rolle des Interviewers ein. Wir gingen durch ein Tor und mehrere Schleusen und mussten verschiedene Gegenstände abgeben, beispielsweise unsere Handys. Zunächst war die Situation etwas seltsam. Beide Seiten wurden zu diesem Gespräch überredet, und ich merkte, dass die Frauen gleichgültig, beinahe lustlos dasaßen. Ich dachte, dass es wahrscheinlich keine interessanten Geschichten werden würden. Ich habe die Situation anfangs unterschätzt. Erst als sie erzählten, habe ich verstanden, dass die Frauen selbst Opfer der Gesellschaft geworden waren, eines neuen Polens und eines männlichen Systems. Es war der Anfang des Kapitalismus, ein paar Jahre nach der Wende, und viele Männer, die vorher die Hauptversorger waren und das Geld nach Hause brachten, fanden sich in der Transformationszeit nicht mehr zurecht. Sehr häufig ergriffen dann die Frauen die Initiative. Sie übernahmen diese neue Rolle und tappten gleichzeitig in alle Fallen des neuen Systems.
Es stellte sich heraus, dass diese Art von Straftaten vor allem von Frauen verübt wurde. Sie waren keine Mörderinnen oder Totschlägerinnen, sondern Betrügerinnen, die in der Zeit des wilden Kapitalismus Geld veruntreut und gestohlen hatten, um ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie waren Opfer des neuen Systems.
n.: Wie werden aus den Geschichten Ihrer Protagonistinnen und Protagonisten Ihre eigenen Texte?
W.N.: Ich verstecke mich natürlich gerne hinter den Geschichten meiner Heldinnen und Helden. Es gibt Reportagen, die auf die Erzählung in der ersten Person verzichten. Wenn ich mich aber für diese Form entschieden habe, dann gebe ich die Stimme komplett an die Protagonistinnen und Protagonisten ab, wie in dem Beispiel der Finanzbetrügerinnen, hinter deren Geschichte ich als Autor völlig zurücktrete. Hier reichte es, die Frauen zu befragen, nachzuhaken und ihre „Beichten“ aufzuschreiben. In der Reportage Die Nacht von Wildenhagen ist meine Rolle als Reporter eine ganz andere. Ich versuche der Frage nachzugehen, warum so viele Frauen im Winter 1945 Selbstmord begingen, und befrage nicht nur die Heldin Adelheid Nagel, sondern auch Experten, Historiker und Soziologen.
n.: Herr Nowak, in Polen ist vor kurzem ihr drittes Buch erschienen mit dem Titel “Niemiec. Wszystkie ucieczki Zygrfyda” („Der Deutsche. Zygfryds Fluchtversuche“), in dem Sie die widersprüchliche und verworrene Geschichte des Deutsch-Polen Zygfryd Kapela rekonstruieren. Was hat Sie an dieser Geschichte interessiert?
W.N.: Der Deutsche erzählt die Geschichte eines Menschen, der sein ganzes Leben auf der Flucht ist. Er flüchtet vor dem sozialistischen Polen, das System fängt ihn aber immer wieder ein und stopft ihn sich noch tiefer in die Hosentasche, verletzt ihn auf vielerlei Weise. Der Held ist halb Deutscher, halb Pole, er wurde zwei Jahre nach Kriegsende geboren, in den sogenannten wiedergewonnenen Gebieten, in denen alles Deutsche nicht gerne gesehen war. Und seine Eltern nennen ihn ausgerechnet Zygfryd, ein Name, der im damaligen Polen hyperdeutsch und feindlich klingt. Zygfryd empfindet die Volksrepublik als einen Käfig, aus dem er entfliehen will. Er desertiert, versucht die Donau zu durchschwimmen, er wird verhaftet und an der deutsch-deutschen Grenze angeschossen. Das Buch erzählt von der Volksrepublik wie von einem schlechten Brettspiel, dessen Regeln niemand kannte, die Würfel warf die Partei und der Bürger war nur eine einfache Spielfigur. Es ist im Grunde genommen eine Erzählung über den elementaren Drang nach Freiheit
n.: Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
Das Interview wurde von Dominika Herbst geführt und aus dem Polnischen übersetzt.
Literatur von Włodzimierz Nowak:
Obwód głowy. Wołowiec 2007.
Die Nacht von Wildenhagen. Zwölf deutsch-polnische Schicksale. Aus dem Polnischen von Joanna Manc. Frankfurt a. M. 2009.
Serce narodu koło przystanku. Wołowiec 2009.
Das Herz der Nation an der Bushaltestelle. Aus dem Polnischen von Joanna Manc. Berlin 2016.
Niemiec. Wszystkie ucieczki Zygfryda. Warszawa 2016.