Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

“Wissen kann heilen, aber das Wissen war hinter den Türen des Archivs ver­sie­gelt” – Sergej Lebedew im Gespräch mit novinki

Der in Moskau gebo­rene und der­zeit in Potsdam lebende Sergej Lebedew ist einer der popu­lärsten und mei­st­über­setzten rus­si­schen Gegen­warts­au­toren im Westen. In Russ­land wurde er jedoch von der Lite­ra­tur­kritik wie auch vom Lese­pu­blikum weit­ge­hend über­sehen. Lebedew ist ein ent­schie­dener Gegner des Putin-Regimes. Seiner Mei­nung nach gibt es eine klare Linie zwi­schen der Straf­f­lo­sig­keit der sowje­ti­schen Ver­bre­chen und dem heu­tigen rus­si­schen Über­fall auf die Ukraine. Daher scheint sein 2011 erschie­nener Debüt­roman Предел забвения (deut­sche Aus­gabe: Der Himmel auf ihren Schul­tern, über­setzt von Fran­ziska Zwerg) im heu­tigen Kon­text neue Rele­vanz zu bekommen, denn er behan­delt die Fragen der Ver­ant­wor­tung und der Auf­ar­bei­tung von Russ­lands repres­siver Ver­gan­gen­heit. In einem Inter­view für novinki erläu­tert Sergej Lebedew seinen Debüt­roman aus heu­tiger Sicht und teilt seine Über­le­gungen zur glo­balen Wahr­neh­mung der rus­si­schen Sprache und Lite­ratur im Kon­text des umfas­senden Angriffs­kriegs auf die Ukraine.

 

Rezep­tionen: Russ­land vs. anderswo

novinki: Es scheint, dass Sie hier im Westen viel popu­lärer sind als in Russ­land – was glauben Sie, woran das liegt?

Sergej Lebedew: Als ich meinen ersten Roman Der Himmel auf ihren Schul­tern schrieb, dachte ich, dass dieses Buch nicht nur populär in Russ­land sein wird, son­dern dass es eine Art Explo­sion aus­lösen wird, weil es meines Wis­sens der erste Roman war, der nicht aus der Per­spek­tive des Opfers der sowje­ti­schen staat­li­chen Repres­sionen geschrieben wurde, son­dern auch die Täter­schaft in den Blick nahm, und damit die Frage der Ver­ant­wor­tung auf­warf. Aber genau wegen dieser Frage wurde es in Russ­land wahr­schein­lich nicht gerne gelesen und nicht breit dis­ku­tiert. Ich glaube nicht, dass es an meinem lite­ra­ri­schen Ver­sagen liegt, son­dern ein­fach daran, dass unsere Gesell­schaft nicht bereit war, diese Frage so zu stellen, wie sie gestellt werden sollte, und wir es vor­ziehen, dieses Thema zu vermeiden.

novinki: Wie fühlen Sie sich ange­sichts der man­gelnden Auf­merk­sam­keit in Russland?

S.L.: Es kann ziem­lich schmerz­haft sein, in seinem eigenen Land nicht richtig wahr­ge­nommen zu werden, aber es hat mir auf jeden Fall geholfen, einige meiner eigenen Illu­sionen los­zu­werden. Ich dachte wirk­lich, es reicht, das Buch zu schreiben, und das Buch wird als Insti­tu­tion funk­tio­nieren, aber es scheint, dass zuerst einige Insti­tu­tionen und juris­ti­sche Organe geschaffen werden sollten und erst dann die Lite­ratur ein­greifen kann.

Wenn der starke Wunsch, einige Dinge in Russ­land zu ändern, nicht akzep­tiert wird, und man aus­ge­schlossen und kri­ti­siert wird, kann man sogar die Inspi­ra­tion ver­lieren. Aber da ich sah, dass die (Nicht-)Rezeption in Russ­land eine Aus­nahme ist, wäh­rend der Roman in anderen Län­dern sehr viel gelesen wird, gab mir das die Hoff­nung, dass diese Texte viel­leicht eines Tages nach Russ­land und auch zur rus­si­schen Leser­schaft zurück­kehren werden.

“Durch meine Bücher spreche ich mit und für die­je­nigen, die nicht ver­treten sind: mit denen, die vom Leben aus­ge­schlossen wurden und deren Bio­gra­fien zen­siert wurden, und für die­je­nigen, die nicht für sich selbst spre­chen können.”

novinki: Würden Sie sagen, dass Ihre Arbeit für Men­schen, die den Alltag in sozia­lis­ti­schen Län­dern erlebt haben, ver­ständ­li­cher ist?

S.L.: Die­je­nigen, die in Polen, in Bul­ga­rien, in der DDR gelebt haben, wissen sehr gut, wovon meine Bücher han­deln: es ist ihre Erin­ne­rung und ihre Erfah­rung, wäh­rend es in Frank­reich oder in Ita­lien häu­figer als reine Fik­tion gelesen wird. Das spüre ich auch in den Gesprä­chen mit meinen Leser:innen, weil man in Frank­reich so viele Dinge erklären muss, die man in Polen nie gefragt wird.

novinki: Haben Sie ein bestimmtes Publikum vor Augen, wenn Sie mit dem Schreiben Ihrer Romane beginnen?

S.L.: Das habe ich, aber es ist nicht das Publikum der aktiven Leser:innen. Ich denke, ich schreibe für die Gemein­schaft der­je­nigen, die nicht mehr am Leben sind. Durch meine Bücher spreche ich mit und für die­je­nigen, die nicht ver­treten sind: mit denen, die vom Leben aus­ge­schlossen wurden und deren Bio­gra­fien zen­siert wurden, und für die­je­nigen, die nicht für sich selbst spre­chen können.

 

Schreib­weisen: Zwi­schen Fik­tion und Dokument

novinki: Glauben Sie, dass das rie­sige Ter­ri­to­rium der Sowjet­union eine Rolle bei der Indif­fe­renz der Men­schen gegen­über den Opfern der sowje­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­lager spielt?

S.L.: Die Geo­grafie, die Weite Russ­lands, gab Stalin und seinen Nach­fol­gern die ein­zig­ar­tige Mög­lich­keit, die Opfer unsichtbar zu machen. Selbst die Nazi-Kon­zen­tra­ti­ons­lager waren irgendwo in der Nähe, mitten in Europa, wäh­rend die här­testen Gulag-Lager wirk­lich weit weg waren, in den nörd­lichsten Teilen Russ­lands. Das macht das Pro­blem der Erin­ne­rung noch schwie­riger, denn die meisten Men­schen können nicht dorthin gehen, können es nicht anfassen, können es nicht sehen: sie müssen sich auf die Vor­stel­lungs­kraft ver­lassen und auf die Brü­cken, die nur durch Kunst, durch Texte, durch das Kino gebaut werden können.

Als ich zu meiner ersten geo­lo­gi­schen Expe­di­tion auf­brach, dachte ich selbst ganz naiv, dass es da draußen im Norden nur unbe­rührte Natur gibt, nur Taiga. Ich hätte nie gedacht, dass die Lager noch da sind. Ich habe schon pro­mi­nente Schrift­steller wie Solže­nicyn oder Šalamov gelesen, aber ich hätte nie gedacht, dass wir uns immer noch im selben Raum, im selben Chro­notop befinden.

novinki: Da Ihre Arbeit viele doku­men­ta­ri­sche Ele­mente ent­hält, wie war es für Sie, zu ver­su­chen, die Emo­tionen Ihrer Vor­fahren zu erleben und zu erklären?

S.L.: Ich würde nicht sagen, dass ich ihre Emo­tionen nach­er­lebe. Ich denke, es ist etwas anders: Ich mache sie sichtbar. Die Geschichte, dar­unter auch die Fami­li­en­ge­schichte, wie wir sie geerbt haben, wurde auf­grund des Cha­rak­ters der Sowjet­macht wahr­schein­lich fünf oder sechs Mal neu geschrieben. All diese Ver­än­de­rungen zu rekon­stru­ieren und zu ent­schlüs­seln bedeutet, die Rea­lität selbst zu rekon­stru­ieren. Viel­leicht wende ich mich nicht ein­fach an meine Ver­wandten, viel­leicht stelle ich ihre Rea­lität wieder her.

 

Das Insis­tieren des sowje­ti­schen Traumas 

novinki: Warum widmen Sie sich in Ihrer Arbeit so sehr dem sowje­ti­schen Trauma? Was bringt Sie dazu, immer wieder auf dieses Thema zurückzukommen?

S.L.: Ich suche mir meine Bücher nicht aus, sie suchen mich aus. Als ich über Der Himmel auf ihren Schul­tern als Text nach­dachte, sagte ich zu mir selbst: “Nein, da will ich nicht hin.” Statt­dessen dachte ich, ich würde einen lyri­schen Roman über eine Frau-Mann-Bezie­hung in, sagen wir, “Neu­ru­ss­land” schreiben – wir unter­scheiden uns sehr von unseren Eltern mit ihrer sozia­lis­ti­schen Erfah­rung von Gefühlen und Bezie­hungen, also ist das ein inter­es­santes Thema. Ich war begeis­tert von Marcel Proust und beschlos, ein “Dichter der Bezie­hungen” zu werden. Und nachdem ich drei Seiten des Romans geschrieben hatte, wurde mir klar, dass ich nicht über Bezie­hungen schreibe, son­dern über den Gulag.

Selbst wenn man den festen Ent­schluss fasst, nicht dar­über zu schreiben, geht etwas, das man nicht selbst ist, in seine eigene Rich­tung. Es liegt also nicht an mir – viel­leicht können wir sagen, dass ich dazu auf­ge­for­dert werde: es ist nicht klar von wem, viel­leicht von der Sprache, von der Erin­ne­rung, von der Geschichte, von den Ver­wandten selbst, viel­leicht in Kom­bi­na­tion. Aber so geschieht es.

novinki: Was Sie mit Ihren Romanen zu ver­mit­teln ver­su­chen, ist eine wich­tige Bot­schaft. Wie kommt es, dass Sie sich ent­schieden haben, sie in Fik­tion zu verpacken?

S.L.: Die rus­si­sche Archiv­po­litik funk­tio­niert so, dass Ver­wandte eines Opfers staat­li­cher Repres­sionen die per­sön­li­chen Akten des Opfers anfor­dern können. Als Ver­wandter eines Kri­mi­nellen kann man jedoch keine Akten bean­tragen – sie sind immer noch geheim. Auf diese Weise trägt die Archi­vie­rungs­po­litik dazu bei, dass die Ver­bre­cher fig­urlos, gesichtslos und unbe­kannt bleiben, genau wie die Figur des “Groß­va­ters II” in meinem Roman Der Himmel auf ihren Schul­tern. Und dieses Ungleich­ge­wicht war einer der Gründe, warum ich mich ent­schlossen habe, Fik­tion zu schreiben. Wenn es keine Doku­mente gibt, keine Mög­lich­keit, Beweise zu beschaffen, und wenn alle Zeug:innen ver­schwunden sind, gibt es keine Mög­lich­keit, Sach­bü­cher zu schreiben, – und die Fik­tion bleibt als letztes Mittel, wenn man mit diesem Thema arbeiten möchte.

Einer der Haupt­ge­danken von Der Himmel auf ihren Schul­tern war es nicht, diesen unbe­kannten Kreis von Ver­ant­wort­li­chen vor Gericht zu stellen, son­dern sie wieder ins Zen­trum der Auf­merk­sam­keit zu rücken, sie sichtbar zu machen.

 

Auto­bio­gra­phi­sche Hintergründe

novinki: In Der Himmel auf ihren Schul­tern unter­nimmt der Protagonist/Erzähler eine psy­cho­lo­gi­sche Ent­de­ckungs­reise durch seine eigenen Erin­ne­rungen sowie eine phy­si­sche Reise in den Norden Russ­lands, um die Wahr­heit über seinen Ver­wandten her­aus­zu­finden. Haben Sie eine ähn­liche Reise hinter sich?

S.L.: Anders als der Protagonist/Erzähler habe ich meine Reisen vor der Ent­de­ckung unter­nommen. Ich bin mit fünf­zehn Jahren in den hohen Norden gegangen und habe acht Jahre lang an geo­lo­gi­schen Expe­di­tionen teil­ge­nommen, haupt­säch­lich in den ehe­ma­ligen Gulag-Gebieten. Jeden Sommer wie­der­holte ich die Rou­tine der Häft­linge, ging auf ihren Wegen, arbei­tete in den­selben Minen und wohnte in einem Zelt neben ihren Bara­cken. Ohne die ent­spre­chenden Denk­mäler sind diese Orte nicht als Orte des Ter­rors zu erkennen: Die Natur löscht die Erin­ne­rung an die Opfer aus. Es bedarf also immer einer Anstren­gung der Vor­stel­lungs­kraft oder der kör­per­li­chen Erfah­rung, um zu ver­stehen, wie ein Mensch dort durch Zwangs­ar­beit ver­nichtet und getötet werden konnte.

Als ich also einige Jahre nach diesen Expe­di­tionen die Doku­mente fand, die bewiesen, dass mein eigener Ver­wandter, der zweite Ehe­mann meiner Groß­mutter, der Kom­man­dant eines sol­chen Lagers war, war ich zunächst sprachlos. Dann wurde mir klar, dass er sich sehr gut ver­steckt hatte. Wie ich bereits erwähnt habe, gibt es keine Mög­lich­keit, an seine Archiv­do­ku­mente her­an­zu­kommen, und das würde es schwierig machen, über ihn zu schreiben. Aber etwas war in meiner Bio­grafie, näm­lich diese geo­lo­gi­schen Expe­di­tionen, die mir die Mög­lich­keit gaben, zu schreiben, denn ich habe sein Reich gesehen. Ich war dort und habe gesehen, wie es aus­sieht, habe gesehen, welche Spuren es hin­ter­lassen hat – das war also meine Hin­tertür zum Buch.

novinki: Ihre Romane, vor allem der erste, Der Himmel auf ihren Schul­tern, scheinen als Platt­form für die Trauer und die Ver­ar­bei­tung des Todes derer zu dienen, die keine Chance hatten, ord­nungs­gemäß beer­digt zu werden. Wer sind diese Men­schen? Und was bedeutet es für Sie, sich an sie zu erinnern?

S.L.: Wir spre­chen hier nicht von einem natür­li­chen Pro­zess, nicht von Men­schen, die auf natür­liche Weise an Alters­schwäche gestorben sind, wir spre­chen von denen, die getötet wurden, von denen, die – will­kür­lich oder nicht – aus ver­schie­denen Gründen aus­ge­wählt wurden, um eine Strafe zu erhalten, von denen, in deren Leben ein Ver­bre­chen verübt wurde. Und ein Ver­bre­chen ist nichts, das wir in den mensch­li­chen Bezie­hungen als natür­lich betrachten sollten. Es ist das Ver­bre­chen, das der Erin­ne­rung bedarf. Wenn wir anfangen, die Ver­bre­chen zu ver­gessen, begeben wir uns in eine sehr gefähr­liche Zone der Abwe­sen­heit von Moral.

Diese Men­schen wurden gewaltsam aus dem Gedächtnis gelöscht, weil der sowje­ti­sche und später der rus­si­sche Staat beson­dere Anstren­gungen unter­nommen haben, um sie ver­schwinden zu lassen: von der nur zu gut bekannten Bear­bei­tung von Schul­bü­chern bis zur Ein­rich­tung unbe­kannter Gräber im Norden. Wir haben es hier mit einer flä­chen­de­ckenden “Ent­me­mo­ri­a­li­sie­rung” zu tun – nicht mit einem natür­li­chen Pro­zess. Des­halb ist die ein­zige Mög­lich­keit, sich dagegen zu wehren, die Durch­set­zung der Erin­ne­rungs­po­litik. Das ist ein schwie­riger Kampf, denn der Staat wollte nicht nur, dass sie getötet werden, son­dern auch, dass sie ganz ver­schwinden. Wenn man also gegen das unter­drü­cke­ri­sche Erbe des Staates kämpft, ist das Beste, was man tun kann, die Erin­ne­rung an die Ver­schwun­denen zu bewahren.

Ich würde sagen, dass zu viele Dinge in Russ­land, aber auch schon in der Sowjet­union – vom Beginn des 20. Jahr­hun­derts bis heute – auf eben­jenem Gebot des “Ver­gessen wir es” basieren, weil es zu schwierig ist, dar­über zu spre­chen. Meine Auf­gabe als Schrift­steller, als Bürger, als Mensch ist es, mich dem ent­ge­gen­zu­stellen, denn zu viele Dinge wurden gewaltsam vergessen.

“Um sich vom Trauma zu befreien, um frei zu atmen und sein eigenes Leben zu leben, muss man in die Ver­gan­gen­heit gehen, man muss es auf­de­cken, sonst wird man sein Leben im Schatten dieses Erbes leben.”

novinki: In Ihrer eigenen Fami­li­en­ge­schichte gibt es nicht nur Opfer, son­dern auch Täter. Hatten Sie per­sön­lich das Gefühl, dass diese Methode Ihnen geholfen hat, Ihre eigene Fami­li­en­ge­schichte zu ver­ar­beiten – und haben Sie nach dem Schreiben dar­über Klar­heit oder Erleich­te­rung verspürt?

S.L.: In dem Moment, da ich die Wahr­heit über meinen Ver­wandten her­aus­ge­funden hatte und die Doku­mente in den Händen hielt, die bewiesen, dass er der Kom­man­dant eines Gulag-Lagers gewesen war, fühlte ich mich, nach den ersten Gefühlen von Schock und Über­ra­schung, völlig hilflos. Es war, als wäre er an mich gekettet, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe ver­sucht, von dort weg­zu­kommen, nicht nur weg­zu­laufen, son­dern auch, diese Situa­tion zu ver­ar­beiten. Es war ein Moment der Ver­zweif­lung, ich wollte das nicht unver­ar­beitet lassen, aber ich wusste nicht, wie ich es ver­ar­beiten sollte. Wissen kann heilen, aber das Wissen war hinter den Türen des Archivs ver­sie­gelt, und alle Zeug:innen sind verschwunden.

Bald wurde mir klar, dass es wahr­schein­lich irgendwo in Russ­land in diesem Moment eine andere Person gibt, die gerade das Gleiche über ihre Ver­wandten her­aus­ge­funden hat und sich die glei­chen Fragen stellt. Also beschloss ich, Der Himmel auf ihren Schul­tern als eine “Trans­for­ma­ti­ons­ma­schine” zu schreiben, nicht nur für mich selbst, son­dern für alle, die unter der Ver­gan­gen­heit ihrer Vor­fahren leiden. Diese Maschine ermög­lichte es mir, in das Land der Toten zu gehen und wieder zurück­zu­kehren. Ich hatte dabei das Gefühl, dass zumin­dest ein kleiner Teil meines Bewusst­seins, meiner Seele, meiner Inte­grität geheilt wurde. Ich kann jetzt damit umgehen, ohne es abzu­lehnen, aber auch ohne unkon­trol­lierte Schuld­ge­fühle zu haben. Wenn es ein Expe­ri­ment war, dann war es ein erfolg­rei­ches Experiment.

novinki: Welche Art von Erkenntnis hat diese “Trans­for­ma­ti­ons­ma­schine” für Sie und für Ihre Leser:innen gebracht?

S.L.: Als das Buch Der Himmel auf ihren Schul­tern in Russ­land ver­öf­fent­licht wurde, erhielt ich Briefe und Nach­richten von den Leser:innen. Plötz­lich fingen sie an, sich alle zu ähneln. Die Leute schrieben mehr oder weniger den glei­chen Text dar­über, wie mein Buch ihnen geholfen hat, die Wahr­heit über ent­fernte Ver­wandte in ihren eigenen Fami­lien zu erkennen. Sie sagten, dass sie eine dunkle Energie spürten, die von diesen Ver­wandten aus­ging, aber sie waren nicht in der Lage, deren Ursprung zu erklären, und jetzt, mit meinem Buch, mit dem Por­trät von “Groß­vater II”, sahen sie die gleiche Art der Emo­tio­na­lität in ihrer eigenen Familie.

Ich würde sagen, dass es nicht nur das Trauma ist, son­dern auch das Böse, das nicht erkannt wird. Es wird nicht direkt über­tragen, man kann es nicht ver­erben, aber es bleibt als ein dunkles Rätsel, es bleibt als Grund für Stö­rungen, es bleibt als etwas phy­sisch ganz Reales. Und um sich davon zu befreien, um frei zu atmen und sein eigenes Leben zu leben, muss man in die Ver­gan­gen­heit gehen, man muss es auf­de­cken, sonst wird man sein Leben im Schatten dieses Erbes leben.

Und natür­lich ist es die Angst, die über­tragen wird. Bevor ich selbst die Wahr­heit über meinen Ver­wandten her­aus­fand, wussten meine Eltern das schon – aber sie beschlossen, es mir nicht zu sagen. Ich glaube, es war aus Angst: Sie befürch­teten, dass man ihnen die Schuld für das Zusam­men­leben mit ihm geben würde.

“Es lässt sich eine klare Linie von der Nicht­be­stra­fung der sowje­ti­schen Ver­bre­chen bis zum aktu­ellen rus­si­schen Über­fall auf die Ukraine ziehen. Und ich würde sagen, dass die schwie­rigste und tra­gischste Frage für die rus­si­sche Gesell­schaft in der Zukunft darin besteht, ob wir in der Lage sein werden, die­je­nigen zu bestrafen, die jetzt ver­ant­wort­lich sind.”

Ver­drän­gung: Wur­zeln des heu­tigen Ver­hal­tens Russlands

novinki: Welche Aus­wir­kungen hat die man­gelnde Auf­ar­bei­tung der Ver­bre­chen des Sta­li­nismus auf Russ­land heute?

S.L.: Die Straf­lo­sig­keit der staat­li­chen Ver­bre­chen – buch­stäb­lich, phy­sisch, in unserer realen Welt, nicht in der Welt der Phan­tasie – macht den ersten, zweiten, nächsten Kreis­lauf der Gewalt mög­lich. Es lässt sich eine klare Linie von der Nicht­be­stra­fung der sowje­ti­schen Ver­bre­chen bis zum aktu­ellen rus­si­schen Über­fall auf die Ukraine ziehen. Und ich würde sagen, dass die schwie­rigste und tra­gischste Frage für die rus­si­sche Gesell­schaft in der Zukunft darin besteht, ob wir in der Lage sein werden, die­je­nigen zu bestrafen, die jetzt ver­ant­wort­lich sind. Und ich sehe leider nur die man­gelnde Bereit­schaft, Ver­ant­wor­tung zu über­nehmen, über Ver­ant­wor­tung zu spre­chen und zu ver­su­chen, diese Ver­ant­wor­tung in bestimmten juris­ti­schen und poli­ti­schen Maß­nahmen umzusetzen.

In der Sowjet­union hatte jeder Angst vor der Ver­gan­gen­heit, sie ver­folgte die Men­schen; aber als Russ­land in die Phase des wirt­schaft­li­chen Nie­der­gangs ein­trat, wurde die Zukunft plötz­lich zu einer Bedro­hung und einem Feld der Unsi­cher­heit. Ich denke, dass diese Bedro­hung durch die Zukunft auch die Not­wen­dig­keit der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung irgendwie ver­wischt hat.

 

Auf­ar­bei­tung statt Cancel-Cul­ture: Aktu­elle rus­si­sche Lite­ratur und Sprache aus glo­baler Perspektive

novinki: Seit dem Beginn des voll­um­fäng­li­chen Angriffs­krieges auf die Ukraine hat man begonnen, eine Menge impe­ria­lis­ti­scher und chau­vi­nis­ti­scher Motive in der rus­si­schen Lite­ratur zu bemerken. Würden Sie zustimmen, dass es in der rus­si­schen Lite­ratur einige Ele­mente gibt, die für die heu­tige Situa­tion ver­ant­wort­lich sein könnten?

S.L.: Die Ver­ant­wor­tung liegt nicht bei der Lite­ratur, son­dern bei den rus­si­schen Akademiker:innen. Die impe­ria­lis­ti­schen und chau­vi­nis­ti­schen Ten­denzen sind in der Tat vor­handen, zum Bei­spiel in Puškins Erzäh­lungen, und das hätte schon in der Ver­gan­gen­heit ordent­lich ana­ly­siert und ent­larvt werden müssen. Puškin war Puškin zu seiner Zeit, aber es liegt nicht an ihm, son­dern an den rus­si­schen intel­lek­tu­ellen Kreisen, die Puškin als hei­lige Figur aus der Kritik her­aus­ge­halten haben – und das ist das eigent­liche kul­tu­relle Versagen.

Teil­weise lässt sich dies dadurch erklären, dass die Hoch­schul­bil­dung in Russ­land dem Staat gehört, alles ist staat­lich, und die Regie­rung will natür­lich nicht, dass ihr hei­liger Puškin dekon­stru­iert wird. Zwei­tens sollten wir natür­lich ver­stehen, dass Puškin und andere große rus­si­sche Autoren von der sowje­ti­schen und rus­si­schen Regie­rung in hohem Maße poli­tisch instru­men­ta­li­siert wurden, als Mittel der kul­tu­rellen Kolo­ni­sie­rung und Unter­drü­ckung. Auch hier liegt die Schuld nicht bei den Autoren, aber man kann sie nicht von diesen sym­bo­li­schen Bedeu­tungen trennen. Und wenn zum Bei­spiel die Puškin-Sta­tuen in der Ukraine zer­stört werden, habe ich dafür volles Ver­ständnis, denn es sind nicht die Sta­tuen des Dich­ters, son­dern Sym­bole des Besitzes, sie mar­kieren ein Ter­ri­to­rium, und es ist durchaus ver­nünftig, sie zu entfernen.

Ich würde sagen, dass der Ruhm der rus­si­schen Lite­ratur und Kultur, dieses Gefühl der Größe, das Russ­land hat, das in Wirk­lich­keit nicht weit von Chau­vi­nismus und Ras­sismus ent­fernt ist, eines der Haupt­pro­bleme ist. Und diese “Größe”, dieses glän­zende Image der rus­si­schen Kultur los­zu­werden, ist nicht nur not­wendig, son­dern sogar gesund für die Kultur selbst, weil sie dann nicht mehr als Erklä­rung oder Recht­fer­ti­gung für Gewalt benutzt werden kann.

“Daher glaube ich, dass der Pro­zess des Wider­stands mit der Sprache beginnt, denn Putin und seine Regie­rung ver­su­chen, die Men­schen in eine Situa­tion zu zwingen, in der ihre Sprache total ist. Sie ver­su­chen, dieses Monopol auf­recht­zu­er­halten, und es ist sehr wichtig, dieses Monopol auf der Ebene der Erzäh­lungen zu untergraben.”

novinki: Neben der Lite­ratur wird seit dem Über­fall sogar die rus­si­sche Sprache kon­tro­vers dis­ku­tiert und negativ bewertet. Sie schreiben aber wei­terhin auf Rus­sisch. Was halten Sie von den Ver­su­chen, die rus­si­sche Sprache aus der Ukraine zu entfernen?

S.L.: Ich kann sehr gut ver­stehen, dass Rus­sisch nicht mehr will­kommen ist. Ich kann es ver­stehen, weil meine Groß­mutter nie in der Lage war, in Ruhe Deutsch zu hören – die trau­ma­ti­sche Erfah­rung ist mit der Sprache ver­bunden. Aber ich kann die rus­si­sche Sprache nicht denen über­lassen, die sie jetzt miss­brau­chen. Und ich kann nicht tatenlos zusehen, wie die Sprache zur Waffe wird, zum Werk­zeug der Gewalt, zum Werk­zeug der Rechtfertigung.

Daher glaube ich, dass der Pro­zess des Wider­stands mit der Sprache beginnt, denn Putin und seine Regie­rung ver­su­chen, die Men­schen in eine Situa­tion zu zwingen, in der ihre Sprache total ist. Sie ver­su­chen, dieses Monopol auf­recht­zu­er­halten, und es ist sehr wichtig, dieses Monopol auf der Ebene der Erzäh­lungen zu unter­graben. In der Sprache selbst liegt echte Macht, und ich glaube, dass die Sprache das ein­zige Mittel ist, das uns in die Zukunft bringen kann. Und die ein­zige wirk­liche Zukunft besteht darin, Russ­land in einen sicheren und fried­li­chen Nach­barn zu ver­wan­deln. Es geht nicht nur darum, einen Ver­trag zu unter­zeichnen, son­dern Bewusst­sein, Kultur und Sprache einem Wandel zu unter­ziehen. Und wie soll das geschehen? Welche Pro­zesse sollten wir in Gang setzen? Dies ist eine große phi­lo­so­phi­sche, künst­le­ri­sche und kul­tu­relle Her­aus­for­de­rung. Es ist leicht zu sagen, dass wir später dar­über nach­denken werden, oder zu sagen, dass es nur an der Sprache liegt – nein, das ist es nicht. Die Sprache selbst zu dekon­stru­ieren und zu ver­stehen, wie sie mit diesen Ten­denzen des Impe­ria­lismus und der Gewalt zusam­men­hängt, ist sehr wichtig.

novinki: Wie sieht Ihrer Mei­nung nach die Zukunft Russ­lands jetzt aus? Erwarten Sie große Ver­än­de­rungen im Ver­halten und Han­deln der rus­si­schen Bürger:innen?

S.L.: Die Russen fühlen sich ein­deutig schuldig, weil wir seit 2014 nicht genug getan haben. Selbst die libe­ralen oder oppo­si­tio­nellen Kreise Russ­lands spra­chen mehr über Kor­rup­tion als über den Krieg, und dieser Krieg ist nicht der erste, den Russ­land begonnen hat. Es gibt eine klare Linie von den Tsche­tsche­ni­en­kriegen bis zum Über­fall auf die Ukraine, und ich sehe darin ein intel­lek­tu­elles Ver­sagen von uns, von mir selbst.

Viele kon­zen­trieren sich heute darauf, wie sich die Russen fühlen. Ich glaube nicht, dass das jetzt pas­send ist, denn es ist nicht die Zeit, in der wir unsere Gefühle offen­legen sollten. Es ist die Zeit, in der wir eine sehr schmerz­hafte Lek­tion lernen und uns selbst mit den Augen der Ukrainer betrachten und sehen sollten, zum Bei­spiel, wie die rus­si­sche Sprache schmerzen kann. Aber wir sollten auch weiter schauen, über die Grenzen der Ukraine hinaus: Diese groß ange­legte Inva­sion hat in ganz Europa viele Erin­ne­rungen an frü­here Erfah­rungen mit rus­si­scher oder sowje­ti­scher Herr­schaft, repres­siver Politik, Inva­sionen usw. ausgelöst.

In Litauen, in Polen, in Finn­land: Überall erin­nern sich die Men­schen an das, was die Russen bzw. die Sowjets getan haben. Auch mit diesem Erbe, mit der impe­rialen und kolo­nialen Rolle Russ­lands im 20. Jahr­hun­dert, haben wir uns nie richtig aus­ein­an­der­ge­setzt. Wir haben über unsere Opfer gespro­chen, wir haben über die Repres­sionen gespro­chen, aber dar­über, dass wir ein halbes Jahr­hun­dert lang Besat­zungs­macht waren, zum Bei­spiel in Ost- und Mit­tel­eu­ropa ‒ das war nie Haupt­thema der Diskussion.

Wir sind Rück­fall­täter, wir sind die­je­nigen, die das immer wieder tun. Und die ein­zige Hoff­nung für unsere Zukunft ist, dass wir diese Lek­tion wirk­lich lernen werden.

 

Das Inter­view fand am 27. Juni 2023 via Zoom statt.

Das Bei­trags­bild, auf­ge­nommen von James Hill, wurde von Sergej Lebedew bereitgestellt.