Am 05. Juni waren die preisgekrönten ukrainischen Schriftsteller_innen und Intellektuellen Jurij Andruchowytsch und Halyna Petrosanyak in der Aula der Universität Zürich zu Gast, um über die Instrumentalisierung des kollektiven Gedächtnisses in Russlands Krieg gegen die Ukraine zu sprechen. Die Veranstaltung wurde in Kooperation zwischen der Universität Zürich (Slavisches Seminar) und dem Schweizer Ukrainischen Verein „Aventyka“ ausgerichtet. novinki berichtet.
Der heute besonders für seine Romane aus den frühen 1990er und 2000er Jahren bekannte Jurij Andruchowytsch – seine literarischen Anfänge hatte er in der Dichtung und literarischen Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu (steht für „бурлеск-балаган-буфонада“) der 1980er Jahre –, betonte in seinem Vortrag die im Westen vorherrschende „Phantasie“ von der „großen russischen Kultur“ als maßgebliches Problem für eine Wehrhaftigkeit gegen russische Propaganda und Kriegsführung. Er fragt, warum der westliche Rationalismus vor dem russischen mythischen Irrationalismus kapituliere? Es sei die hartnäckige Annahme, der Westen könne in seiner „spirituellen Begrenztheit“ einfach nicht an die große russische Literatur und Kultur heranreichen. Die „informative psychologische Maschinerie“ würde auf die Vorstellung eines „seelenlosen Westens“ und demnach die Berechtigung Russlands, einen angeblich gerechten Krieg für eine „spirituell saubere Weltordnung“ zu führen, abzielen. Dies würde sich nur wenig – so Andruchowytsch – von den Terrororganisationen wie der Taliban oder des Islamischen Staats (IS) unterscheiden. Der Kampf für das „Gute“ gegen das Böse, die Unterwerfung anderer Völker und das Diktat zum angeblich besseren Leben unter Angst würde im Falle Russlands allerdings noch zusätzlich mit den „geistigen Tiefen“ russischer Kultur ausgestattet. Andruchowytsch beschreibt das im Westen dominierende Russlandverständnis als eine Triade von „schlimmem Regime“, „gutem Volk“ und „großer Kultur“, die nun eine Akzentverschiebung erfahren hätte: Das „schlimme“ wird zum „verbrecherischen“ Regime, das „gute“ Volk zu einem „verführten“ – aber die „große“ Kultur, die bleibt groß.
Während Andruchowytsch in den Kategorien West-Ost versucht (und diesen Kategorien doch auch ein wenig verhaften bleibt?), die Anfälligkeit westlicher demokratischer Industriestaaten für russische Propaganda auf diesen „Effekt der Heiligen Kuh“, wie er sagt, zurückzuführen, wirft die seit 2016 in Basel lebende Dichterin und Übersetzerin Halyna Petrosanyak einen historischen Blick auf die russisch-zaristischen Versuche, die ukrainische Sprache zu verbieten, beginnend mit dem „Erlass zum Verbot der ukrainischen Sprache“ 1876. Sie fokussiert sich auf die Vorstellung von literarischen Werken, die ins Deutsche übersetzt wurden, wie etwa „Der Charme von Marokko“ von Sofia Yablonska, „Das Mädchen mit dem Bären„ von Viktor Domontowytsch, „Die Stadt“ von Walerjan Pidmohylnyi . Sie macht auch auf das erst kürzlich erschienene Buch „Alles ist teurer als ukrainisches Leben“, herausgegeben von Aleksandra Konarzwska, Schamma Schahadat und Nina Weller, und den Begriff des Westsplaining – bezugnehmend auf den bereits für chauvinistisch-männliches Bevormunden etablierten Begriff des Mansplaining – als Kategorie in der bundesdeutschen und Schweizer Diskussion aufmerksam. Nach einer anschließenden, kontrovers geführten Diskussion, die auch von Ukrainerinnen aus dem Publikum bereichert wurde, konnten Bücher der beiden Schrifsteller_innen gekauft werden. Zuletzt ist auf Deutsch von Andruchowytsch der Roman „Radio Nacht“ (2022) im Suhrkamp Verlag und von Halyna Petrosanyak der Gedichtband „Exophonien“ (2022) im Schweizer Verlag essais agités erschienen. Die Lyrikerin wird überdies zu Gast sein auf der Züricher Sommerschule zu Mehrsprachigkeit und Migration im September 2023.
Weitere novinki-Texte zu Jurij Andruchowytsch:
http://test.novinki.de/modest-adam-euromaidan-anatomie-des-augenblicks/ (2015)
http://test.novinki.de/marszalek-magdalena-antonycs-geist/ (2006)
http://test.novinki.de/hofmann-tatjana-das-bollwerk-der-kunst/ (2014)
http://test.novinki.de/frank-lindenau-nagelmaa-berlin-ist-eine-meiner-intimen-staedte/ (2014)