Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Jurij Andrucho­wytsch und Halyna Petro­sanyak zu Gast in Zürich

Am 05. Juni waren die preis­ge­krönten ukrai­ni­schen Schriftsteller_innen und Intel­lek­tu­ellen Jurij Andrucho­wytsch und Halyna Petro­sanyak in der Aula der Uni­ver­sität Zürich zu Gast, um über die Instru­men­ta­li­sie­rung des kol­lek­tiven Gedächt­nisses in Russ­lands Krieg gegen die Ukraine zu spre­chen. Die Ver­an­stal­tung wurde in Koope­ra­tion zwi­schen der Uni­ver­sität Zürich (Sla­vi­sches Seminar) und dem Schweizer Ukrai­ni­schen Verein “Aven­tyka” aus­ge­richtet. novinki berichtet.

Das Vor­trags­plakat im Foyer der Uni­ver­sität Zürich.

Der heute beson­ders für seine Romane aus den frühen 1990er und 2000er Jahren bekannte Jurij Andrucho­wytsch – seine lite­ra­ri­schen Anfänge hatte er in der Dich­tung und lite­ra­ri­schen Per­for­mance-Gruppe Bu-Ba-Bu (steht für „бурлеск-балаган-буфонада) der 1980er Jahre –, betonte in seinem Vor­trag die im Westen vor­herr­schende “Phan­tasie” von der “großen rus­si­schen Kultur” als maß­geb­li­ches Pro­blem für eine Wehr­haf­tig­keit gegen rus­si­sche Pro­pa­ganda und Kriegs­füh­rung. Er fragt, warum der west­liche Ratio­na­lismus vor dem rus­si­schen mythi­schen Irra­tio­na­lismus kapi­tu­liere? Es sei die hart­nä­ckige Annahme, der Westen könne in seiner “spi­ri­tu­ellen Begrenzt­heit” ein­fach nicht an die große rus­si­sche Lite­ratur und Kultur her­an­rei­chen. Die “infor­ma­tive psy­cho­lo­gi­sche Maschi­nerie” würde auf die Vor­stel­lung eines “see­len­losen Wes­tens” und dem­nach die Berech­ti­gung Russ­lands, einen angeb­lich gerechten Krieg für eine “spi­ri­tuell sau­bere Welt­ord­nung” zu führen, abzielen. Dies würde sich nur wenig – so Andrucho­wytsch – von den Ter­ror­or­ga­ni­sa­tionen wie der Taliban oder des Isla­mi­schen Staats (IS) unter­scheiden. Der Kampf für das “Gute” gegen das Böse, die Unter­wer­fung anderer Völker und das Diktat zum angeb­lich bes­seren Leben unter Angst würde im Falle Russ­lands aller­dings noch zusätz­lich mit den “geis­tigen Tiefen” rus­si­scher Kultur aus­ge­stattet. Andrucho­wytsch beschreibt das im Westen domi­nie­rende Russ­land­ver­ständnis als eine Triade von “schlimmem Regime”, “gutem Volk” und “großer Kultur”, die nun eine Akzent­ver­schie­bung erfahren hätte: Das “schlimme” wird zum “ver­bre­che­ri­schen” Regime, das “gute” Volk zu einem “ver­führten” – aber die “große” Kultur, die bleibt groß.

 

Adrucho­wytsch (links), Petro­sanyak (mittig), Über­set­zung vom Ukrai­ni­schen Verein “Avten­tyka” (rechts).

Wäh­rend Andrucho­wytsch in den Kate­go­rien West-Ost ver­sucht (und diesen Kate­go­rien doch auch ein wenig ver­haften bleibt?), die Anfäl­lig­keit west­li­cher demo­kra­ti­scher Indus­trie­staaten für rus­si­sche Pro­pa­ganda auf diesen “Effekt der Hei­ligen Kuh”, wie er sagt, zurück­zu­führen, wirft die seit 2016 in Basel lebende Dich­terin und Über­set­zerin Halyna Petro­sanyak einen his­to­ri­schen Blick auf die rus­sisch-zaris­ti­schen Ver­suche, die ukrai­ni­sche Sprache zu ver­bieten, begin­nend mit dem “Erlass zum Verbot der ukrai­ni­schen Sprache” 1876. Sie fokus­siert sich auf die Vor­stel­lung von lite­ra­ri­schen Werken, die ins Deut­sche über­setzt wurden, wie etwa “Der Charme von Marokko” von Sofia Yablonska, Das Mäd­chen mit dem Bären von Viktor Domon­to­wytsch, “Die Stadt” von Walerjan Pidmo­hylnyi [Anm. d. Red.: Das Buch wurde im Rahmen eines Über­set­zungs­se­mi­nars am Ber­liner Redak­ti­ons­standort Hum­boldt-Uni­ver­sität über­setzt und erschien anschlie­ßend im Gug­golz-Verlag]. Sie macht auch auf das erst kürz­lich erschie­nene Buch “Alles ist teurer als ukrai­ni­sches Leben”, her­aus­ge­geben von Alek­sandra Kon­arzwska, Schamma Schahadat und Nina Weller, und den Begriff des West­s­plai­ning – bezug­neh­mend auf den bereits für chau­vi­nis­tisch-männ­li­ches Bevor­munden eta­blierten Begriff des Mans­plai­ning – als Kate­gorie in der bun­des­deut­schen und Schweizer Dis­kus­sion auf­merksam. Nach einer anschlie­ßenden, kon­tro­vers geführten Dis­kus­sion, die auch von Ukrai­ne­rinnen aus dem Publikum berei­chert wurde, konnten Bücher der beiden Schrifsteller_innen gekauft werden. Zuletzt ist auf Deutsch von Andrucho­wytsch der Roman “Radio Nacht” (2022) im Suhr­kamp Verlag und von Halyna Petro­sanyak der Gedicht­band “Exo­pho­nien” (2022) im Schweizer Verlag essais agités erschienen. Die Lyri­kerin wird über­dies zu Gast sein auf der Züri­cher Som­mer­schule zu Mehr­spra­chig­keit und Migra­tion im Sep­tember 2023.